Energiesparen und Kirchenmusik: „Entscheidend ist die Verhältnismäßigkeit“

Ansgar Schlei, Vorsitzender des Verbandes für Kirchenmusik in der Evangelischen Kirche im Rheinland, über das Singen und Musizieren in kalten Kirchen, den bevorstehenden Advent und die gerade erschienenen Handlungsempfehlungen für verantwortungsbewusstes Temperieren.

 

Herr Schlei, die Presbyterien stehen vor den Entscheidungen, wie und ob sie angesichts der Energiekrise im Winter ihre Kirchen beheizen. Was ist aus Ihrer kirchenmusikalischen Sicht zunächst mit Blick auf die Instrumente zu bedenken?
Ansgar Schlei:
Die Orgeln halten eine Menge aus. Man muss natürlich darauf achten, sie keinem Frost auszusetzen, wenn sie nicht ohnehin schon für einen Raum gebaut wurden, der nicht beheizt werden kann. Maßgeblich ist bei Orgeln nicht die Temperatur, sondern die Luftfeuchtigkeit. Sie sollte zwischen 45 und 70 Prozent liegen. Auch bei Blechblasinstrumenten sind niedrigere Temperaturen relativ unproblematisch, auch wenn es nicht so schön ist, wenn sie zu kalt sind. Bei Holzblas- und Streichinstrumenten wird es schwieriger: Ein Streichinstrument darf nicht unter zwölf Grad Celsius gespielt werden, weil sich sonst Rissbildungen fortsetzen können. Und bei Holzblasinstrumenten wie Oboen, Flöten und Klarinetten sind sogar 15 bis 16 Grad erforderlich.

In zwei Monaten beginnt mit dem Advent eine Hochzeit der Kirchenmusik. Wie verträgt sich das mit einem rigorosen Energiesparkurs?
Schlei:
Ganz konkret: Eine Kantorei plant ein Adventskonzert mit einem beteiligten Orchester und Solisten und wird wahrscheinlich Schwierigkeiten haben, Leute zu finden, die dazu bereit sind. Es gibt schon Kolleginnen und Kollegen, die gesagt haben, dass sie dann im Dezember die Konzerte ausfallen lassen müssen. Bei den Mitwirkenden wird es auch angesichts der Altersstruktur unserer Chöre zu einer Motivationsfrage, bei einer Generalprobe singend vier Stunden lang in einer acht Grad kalten Kirche zu stehen. Da sind Krankheitsfälle vorgezeichnet. Und bei den Zuhörenden stellt sich die Frage, wer unter diesen Bedingungen noch in eine Kirche kommt und dafür Eintrittsgeld zahlt, wenn vor Ort nicht entsprechend vorgesorgt wurde.

Sonntagsgottesdienste allein reichen nicht

Welche Alternativen gibt es für die Probenpraxis?
Schlei:
Die Probenarbeit ist weniger das Problem, wenn es nicht wegen Corona wieder notwendig wird, möglichst große Räume zu nutzen, was in vielen Gemeinden wieder auf die Kirchen hinausläuft. Ansonsten können für die Probearbeit gut andere Gemeinderäume genutzt werden. Die Frage wird eher sein: Wofür proben wir denn, wenn die Adventskonzerte abgesagt sind? Insbesondere den Chören mit einem gehobenen Anspruch reichen die Sonntagsgottesdienste allein nicht – gerade nicht nach zwei Pandemiejahren, in denen ohnehin schon wenig möglich war.

Zwei Jahre, in denen auch die freiberuflichen Musikschaffenden bereits sehr zurückstecken mussten.
Schlei:
Ich merke jetzt schon, dass sich manches wiederholt. Ich bekomme von Musikern und Musikerinnen und selbstständigen Ensembles wieder verstärkt Anfragen, weil wenig Planungssicherheit herrscht und viele meiner Kolleginnen und Kollegen sich deswegen nicht auf Monate im Voraus festlegen möchten. Hinter den Anfragen steht ganz klar die Sorge um die Existenzsicherung, weil die Musiker natürlich auch den Kostenexplosionen ausgesetzt sind und jetzt mehr Akquise betreiben müssen, wenn Konzerte ausfallen. Dabei ist der Advent auch eine Chance, Menschen die Gelegenheit zu geben, für ein oder anderthalb Stunden den Alltag zu vergessen und etwas ganz anderes zu hören als Krieg, Corona und Energiekrise. Diese Chance sollten wir auch in der Kirchenmusik nicht verstreichen lassen.

Ausgleich zwischen Energiesparen und anderen Zielen

Die Handlungsempfehlungen „Verantwortungsbewusstes Temperieren von Kirchen im Winter 2022/2023“ plädieren für einen Ausgleich zwischen dem Energiesparen und anderen gemeindlichen Zielen. Wie könnte ein solcher Ausgleich bei der Kirchenmusik gelingen?
Schlei:
Ich erlebe in der Praxis noch eine große Unsicherheit. Aber es gibt einen Mittelweg zwischen 18 Grad, die wir an manchen Stellen noch haben, und acht oder neun Grad Mindesttemperatur. Ein Kompromiss wäre ja schon, sich an den 20 Prozent Einsparung zu orientieren, die derzeit politisch gefordert werden. Ein Grad weniger bedeutet sechs Prozent Einsparungen, bei Kirchen sogar zehn bis 15 Prozent. Mitwirkenden wie den Besucherinnen und Besuchern ist ganz klar, dass es Einschränkungen geben wird. Entscheidend ist die Verhältnismäßigkeit, um allen Interessen gerecht werden zu können. Die wenigsten wissen auch wirklich, was acht Grad in einer Kirche bedeuten. Und egal, was jetzt entschieden wird: Es muss immer die Möglichkeit geben, die Folgen und damit auch die Entscheidung selbst zu überprüfen.

Wie kann in Gemeinden, in denen es keine hauptamtlichen Kirchenmusikerinnen und -musiker gibt, die Sicht der Kirchenmusik in die Entscheidungen mit einfließen?
Schlei:
Die erste Anlaufstelle sind die Kreiskantorate. Unsere Kreiskantorinnen und Kreiskantoren sollten den Gemeinden auch schon proaktiv signalisieren: Wir sind beratend für euch da. Und sie könnten mit Blick auf die Adventszeit Empfehlungen geben, was notwendig ist, damit eine Adventsmusik auch unter den gegebenen Umständen noch festlich gestaltet werden kann.

  • 27.9.2022
  • Ekkehard Rüger
  • Andreas Jäger